Dienstag, 30. November 2010

09.08.2010: Les Côtes - Chanaz (29 km)

3. Reise/10. Tag

Die Sonne brennt schon am frühen Morgen erbarmungslos vom Himmel. Eigentlich mein Wetter, aber ich merke schon bald, dass ich im Kreis laufe. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Hitze legt sich auf die Bilder in meinem Kopf und alles verschwimmt zu einem dicken Brei. Zwei Schritte vor, drei zurück. Wie im wahren Leben. Ich bin hoffnungslos verloren.

Eine Telefonkabine schluckt meine teure Telefonkarte und spuckt sie nicht mehr aus. Ich werde vom "Maison de la Culture" zur Touristen-Info geschickt, allein auf den paar Metern verlaufe ich mich und renne eine halbe Stunde völlig kopflos durch die Straßen. Gezwungen freundliche Menschen versuchen, mit der französischen Telekom zu telefonieren, nach einer halben Stunde stellt sich heraus: alles zwecklos, ich lasse meine deutsche Adresse dort und verschwinde. 
Seyssel


Es ist Wochenmarkt in Seyssel und ich finde zwischen den ganzen Menschen und Marktständen endlich die Post. Eine neue Telefonkarte. Wo ist die nächste funktionierende Telefonzelle? Aha, ich muss bis zum Bahnhof laufen, ans andere Ende, meint die Frau. Okay. Auf die halbe Stunde kommt es jetzt auch nicht mehr an. Dad's Stimme beruhigt mich ein bisschen. Ja, es ist alles okay, Dad, nur ein bisschen heiß hier, weißt du. Wieder durch das Gewühle hinauf zum Zentrum. Ich kann nicht loslaufen, ohne etwas getrunken zu haben. Ich setze mich in einem Straßencafé an ein kleines Tischchen und bestelle einen Eiscafé. Ich habe den direkten Blick auf die Post, wo ich vor einer halben Stunde die Telefonkarte gekauft hatte. Und dann sehe ich sie, direkt daneben: 3 Telefonzellen.

Mittlerweile ist es 10:30 Uhr. Die Sonne brennt und ich laufe wie in Trance. Ich setze einen Schritt vor den anderen, versuche mich zu konzentrieren, ich laufe und laufe und habe doch das Gefühl, kaum vorwärts zu kommen. Irgendwann gebe ich innerlich mein Ziel "Chanaz" auf und beschließe, die nächste Herberge, die mir über den Weg läuft, beim Schopf zu packen. Da! Ein Schild, 1,5 km abseits vom Weg, okay, das pack ich noch. Ich frage zur Sicherheit noch ein paar ältere Herren, die vor einem Haus im Schatten sitzen. Die Herberge? Jaja, immer geradeaus.

Dann schleppe ich mich zur Tür, drücke die Klingel. Eine Frau öffnet, nein, wir haben nichts mehr frei. Ich verstehe nicht, was sie sagt, frage mehrmals: Pardon? Langsam begreife ich, was das bedeutet. Nein, flüstere ich, nein. Ich muss ein erbärmliches Bild abgeben, denn die Frau hastet panisch ins Haus und bringt mir irgendeinen Mineraldrink. Ich leere das Glas in einem Zug, dann humpele ich grußlos davon. Ich kann einfach nicht mehr.

Ich versuche, meinen Kopf zu überlisten. Jemand sagte mir mal: "Wenn du zum ersten Mal denkst, du kannst nicht mehr, hat dein Körper noch 50 Prozent Reserven." Es ist wie beim Joggen. Wenn du 10 km laufen willst und kurz vor der Ziellinie erfährst, dass du noch 1 km dranhängen musst, denkst du: Das geht nicht. Willst du aber von Anfang an 11 km laufen, schaffst du das ohne Probleme. Okay, jetzt muss ich also die psychologischen Tricks auspacken.

Ich stapfe die 1,5 km zurück und dann also doch nach Chanaz. Ohne Schatten, ohne einen einzigen Baum, ohne eine Bank oder einen großen Stein, auf dem man sich hätte setzen können - kilometerlang geradeaus, direkt am Strand entlang. Ich habe keinen Blick mehr für die Schönheit der Rhone. Ich heule leise vor mich hin, Tränen vermischen sich mit Schweiß und meine Füße sind dicke schwere Klumpen. Meine Wasserflasche ist schon lange leer, meine Lippen springen auf. Nur wenige Menschen sind hier unterwegs - es ist einfach zu heiß.

Dann endlich: Ich sehe in der Ferne die ersten Caravans, der Campingplatz von Chanaz!

Ein heißer Tag an der Rhone

Aber es sollte noch nicht zu Ende sein. Am Campingplatz nur ein Schild: Ich komme bald wieder.

Ich setze mich in den Kiosk und trinke schnell nacheinander zwei Halbliterkrüge Eistee. Und dafür werde ich noch von einer Gruppe junger französischer Hühner ausgelacht. Na, vielen Dank. Habt ihr vielleicht eine Ahnung, wie ich mich fühle? Ach, egal. Ich rufe in der Gite rural an. Ja! Ein Bett ist noch frei, aber ich muss auf den Berg hinauf, ans andere Ende von Chanaz. Oben angekommen, öffnet mir ein älterer Mann in der Badehose und zeigt mir das Bett. 

Nein, denke ich. Ich kann hier nicht bleiben. Es riecht modrig, ein feuchter Belag liegt auf den Möbeln und als ich die Toilette sehe, mache ich auf dem Absatz kehrt. Wieder hinunter nach Chanaz. Der alte Mann ruft mir wüste Beschimpfungen nach, ich drehe mich nicht einmal mehr um.

Unten in Chanaz gibt es ein heruntergekommenes Hotel mit einem merkwürdigen Typen und in den Handtüchern sind Löcher. Egal. Schluss jetzt. Hier bleibe ich. Es dämmert schon, als ich meine Wäsche an die Fenster hänge.

Die Hitze legt sich auf die Bilder in meinem Kopf und alles verschwimmt zu einem dicken Brei. Zwei Schritte vor, drei zurück. Wie im wahren Leben. Ich bin hoffnungslos verloren.

Ich schlafe wie ein Stein.

Soundtrack of the day: Eddie Vedder - Big hard sun

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen