Montag, 29. November 2010

05.06.2010: Maria Einsiedeln - Ingenbohl (20,5 km)

2. Reise/1. Tag

Eine fast leere S-Bahn bringt mich die letzten Kilometer nach Maria Einsiedeln und als ich aussteige, kann ich kaum glauben, dass ich hier erst einmal - letztes Jahr im Oktober am Ende meiner ersten Pilgerreise war. Alles ist mir noch genau in Erinnerung und obwohl mir dieser Ort jetzt bei Sonnenschein und im Vollbesitz meiner Kräfte deutlich sympathischer ist, zieht es mich gleich hinauf zum Kloster. Der Weg ruft.

Ich laufe zügig, immer am Flüsschen Alp entlang durch die wunderschöne Landschaft und ich glaube, hier habe ich es zum ersten Mal: Dieses Hans-im-Glück-Gefühl. Ich verdränge den Gedanken daran, dass ich mir grade im Moment den Sonnenbrand meines Lebens hole und genieße einfach nur den Weg, die Natur, das Jetzt. So lange hatte ich mich auf den Weg zurückgesehnt. Endlich. Endlich.


In der Ferne zeichnen sich die Mythen ab - da hinüber muss ich heute noch. Ich quere eine Landstraße und da geht es auch schon los. In der brütenden Hitze geht es steil nach oben zum Haggenegg. Das tut sich an einem derart heißen Tag wohl außer mir kaum jemand an. Während unten auf den ersten Kilometern am Flüsschen entlang noch jede Menge Walker, Jogger und Spaziergänger unterwegs waren, kämpfe ich mich alleine den Berg hinauf.

Bereits vollständig nassgeschwitzt komme ich auf halber Strecke an ein Gatter und sehe von oben einen Mountainbiker herankommen. Eigentlich möchte ich ihm nur freundlicherweise das Gatter aufhalten. Der aber ist wohl über eine kleine Pause genauso froh wie ich, reißt sich die Kopfhörer seines MP3-Players aus den Ohren und steigt halb ab. Ich denke plötzlich, dass er wohl genauso ein seltsamer Mensch sein muss wie ich: Da unten in Schwyz tobt der Bär auf diesem Trachtenfest und wir beide keuchen uns hier oben in völliger Einsamkeit und 40 Grad im Schatten inmitten dieser unglaublichen Natur die Lunge aus dem Leib. 

Dann komme ich auf 1.414 m auf der Passhöhe an, dem höchsten Punkt meiner gesamten Pilgerreise, und habe eine grandiose Aussicht auf den Hoch-Ybrig, die Glarner Alpen, die Mythen und den Haggenspitz. Im kleinen Gasthaus Haggenegg setze ich mich auf die Terrasse, trinke ein eiskaltes Rivella und strecke die Beine aus.

Übers Haggenegg nach Schwyz hinunter
Der Weg vom Haggenegg nach Schwyz hinunter ist dann glücklicherweise nur halb so dramatisch wie er in den Reiseführern beschrieben wird. Die 900 Höhenmeter abwärts, die zu überwinden sind, spüre ich deutlich in den Oberschenkeln. Aber der Weg ist gut. Und immer wieder habe ich traumhafte Ausblicke nach Schwyz und auf den Vierwaldstätter See hinunter.

Während oben noch ein angenehmes Lüftchen ging, bekomme ich mit jedem Meter, den ich weiter absteige, die Hitze wieder erbarmungslos zu spüren. Mein T-Shirt könnte ich fast auswringen, meine Arme und Beine sind bedeckt von einer gleichmäßigen Schmutz- und Schweißschicht, mein Gesicht ist rot und heiß und ich mache eigentlich keine Schritte mehr, ich falle so ein bisschen von der rechten Hüfte in die linke und wieder zurück. Dann komme ich in der Abendsonne bei den ersten Straßensperren an. Schwyz.

Menschen in Festtagstrachten kommen mir entgegen. Je weiter ich in den Ort hinuntergehe, desto dichter wird der Geräuschpegel um mich herum, Musik & Kinderlachen, es duftet nach Grillfleisch. Ich laufe beinahe wie in Trance durch das Trachtenfest. Ich passe überhaupt nicht in dieses Bild, aber ich störe hier auch nicht - also lasse ich mich durch die Gassen treiben, ohne wirklich Teil des Ganzen zu sein. Zuerst überlege ich noch, mir einen schattigen Platz an einem der Biertische zu suchen, die Beine auszustrecken und ein bisschen Siesta zu machen. Es wäre auch mehr als vernünftig, etwas zu essen zu besorgen, zumal ich in Ingenbohl auf dem Bauernhof wohl nichts mehr kriegen würde. Die Bäurin hatte mich vorgewarnt, sie ist mitten in der Heuernte und Abendessen machen ist einfach nicht drin.

Aber ich laufe weiter und weiter, die Tische sind meist voll, ich müsste mich irgendwo zu diesen sauberen, ausgeruhten Menschen dazudrängen - das kommt aber schon alleine aufgrund meines desolaten hygienischen Zustandes nicht in Frage. Dann kann ich mich für keinen Essensstand entscheiden, überall duftet es verführerisch, aber ich habe keinen Nerv, lange anzustehen, und so komme ich immer mehr ins Zentrum. Hier schieben sich die Menschen vorwärts, es wird ungemütlich.

Nein, das glaube ich jetzt nicht! Ich sehe einen Wegweiser dicht bei mir und einen weiteren in der Ferne auf der anderen Seite des Platzes. Dazwischen eine riesige Holztribüne, hinter der sich gerade eine Trachtengruppe aufstellt. Ich vermute, dass hier gleich getanzt wird, jedenfalls ist um die Tribüne herum kein Durchkommen mehr, die Zuschauer stehen dicht gedrängt. Mir ist jetzt schon alles egal - Augen zu und durch. Ich klettere auf die leergefegte Tribüne und gehe forschen Schrittes mitten hindurch. Mein Publikum lacht und grölt und applaudiert, aber das Ganze ist mir seltsamerweise nur minimal peinlich. Ich bin glücklich, auf der anderen Seite bei meinem Wegweiser angekommen zu sein und laufe jetzt auch schon aus Schwyz heraus. An einem Brunnen mache ich noch kurz halt, dann geht es wieder hinein in die Natur. Als ich auf die Uhr schaue, bin ich dann doch kurz schockiert: Es ist 18:30 Uhr, jetzt heißt es einfach nur zügig Kilometer machen, so gut das noch irgendwie möglich ist.

Dann sehe ich in der Ferne auf einer Anhöhe das Kloster Ingenbohl. Ein wunderschöner schmaler Weg führt hinauf. Völlig außer Atem treffe ich oben eine Schwester, die auf mich zueilt und mich besorgt fragt, ob sie mir helfen kann. Als sie hört, dass ich zum Bauernhof möchte, lässt sie sich nicht davon abbringen, ein Stück mit mir zu gehen. Erst in diesem Moment fällt mir auf, dass es schon fast dunkel geworden ist.

Die Bäurin bringt mir einen leichten Baumwollschlafsack, zeigt mir den Kühlschrank, wo ich etwas zu trinken holen kann, und als ich mich in der großen Scheune umschaue und meinen Rucksack auf mein Strohbett werfe, fühle ich mich auf Anhieb wohl.

Meine erste Nacht im Stroh. Zwei österreichische Mitpilgerinnen, die kaum ein Wort mit mir sprechen, ein Sonnenbrand, der sich gewaschen hat und kaum mehr die Kraft, die Zähne zu putzen. Aber mit niemandem - mit niemandem auf dieser ganzen Welt würde ich tauschen.

Soundtrack of the day: Moby - Everloving

1 Kommentar:

  1. Salü ... Mit Ausnahme des Trachtenfestes, kam mir dieser Abschnitt genauso vor wie Du es geschildert hast... Ebenfalls ein eiskaltes Rivella genossen habe.. Grüsse Aviaticus

    AntwortenLöschen